Das Funktionenmikroskop von Kirsch

Das 'Funktionenmikroskop' war ein Vorschlag von Arnold Kirsch „zur visuellen Vermittlung einer Grundvorstellung vom Ableitungsbegriff“, der damals mit OHP-Folien realisiert wurde (Kirsch, 1980). 

Wiederholt wurde ein Ausschnitt um einen Punkt auf dem Graphen von f mit dem Faktor 4 vergrößert. Das ist in heutigen Worten die Idee des Hineinzoomens, in den damaligen Worten "die Idee der 'lokalen Glättung' des Graphen bei fortwährender Vergrößerung" (Blum & Kirsch 1979): 
„Wir sehen uns den Graphen einer (geeigneten) Funktion f in der Nähe eines festen Punktes P mit einem ‚Mikroskop‘ an. Dabei bemerken wir, daß das beobachtete kleine Graphenstück bei hinreichend starker Vergrößerung praktisch geradlinig verläuft und somit eine gewisse Steigung besitzt. Dies ist die Steigung von f an der betreffenden Stelle“ (Kirsch, 1979). 

Dieser Ansatz von Kirsch (die Idee gab es auch schon vor ihm, er hat sie aber didaktisiert und mit einem prägnanten Namen verbunden) war rein graphisch, anschaulich und kalkülfrei: 
"Wir suchen hier nicht primär eine Gerade, die sich an den Graphen von f im Punkte P möglichst gut 'anschmiegt' (die Tangente); wir suchen auch keine affin-lineare Funktion, welche die Funktion f in der Nähe einer Stelle a möglichst gut 'approximiert'. Sondern wir betrachten als Ausgangspunkt den Graphen der Funktion f selbst und erkennen, daß er bei Beschränkung auf ein hinreichend kleines Teilstück in der Nähe des gewählten Punktes P praktisch geradlinig verläuft." (Kirsch 1979).  
Es sei noch angemerkt, dass das Funktionenmikroskop gelegentlich fälschlicherweise als Lineare Approximation gesehen wurde. Mit dem Funktionenmikroskop/ der Funktionenlupe wird zwar graphisch "die infinitesimale Linearität von differenzierbaren Funktionen visualisiert" (
Westermann et al. 1999), aber es werden explizit keine linearen Funktionen als lokale Approximation bestimmt, wie Kirsch selber betont hatte.

Der vorgefertigte Foliensatz von Kirsch blieb zwangsläufig an die vorgegebene Funktion f und die vorgegebene Stelle a gebunden. Auch war der Foliensatz naturgemäß ein Werkzeug in Lehrerhand. Darüber hinaus gab es durch den streng graphischen Ansatz keine Verbindung zum üblichen Unterrichtsgang mit dem Kalkül der h-Methode, weswegen dieser Ansatz letztlich leider keine breite Akzeptanz in der Schule fand.

Ab Mitte der 90-er Jahre wurde das Funktionenmikroskop dann auch mit Funktionenplottern oder CAS digital realisiert (siehe z.B. Kirsch 1995, Westermann et al 1999 oder Henke 2004) und damit flexibler nutzbar.

Kirsch untersuchte 1995 dann auch 'pathologische Funktionen' mit dem Funktionenmikroskop (mit Hilfe von Mathematica). Er weist in dem Zusammenhang zu den Grenzen der Anschauung darauf hin: "Die Beobachtungen können wohl angemessene Vorstellungen vom Begriff der Differenzierbarkeit vermitteln und begriffliche Präzisierungen provozieren, aber sie allein können niemals eine exakte Definition ersetzen". 
 


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